„Es ist Tradition“, wiederholte die Königin müde und massierte sich ihre Schläfen. „Georg! Sag doch auch mal etwas dazu. Sie ist auch deine Tochter!“
Der König sah von seiner täglichen Korrespondenz auf, schob die Lesebrille auf die Nasenspitze und musterte seine jüngste Tochter über den Brillenrand.
„Deine Mutter hat ganz recht“, sagte er. „Es ist Tradition. Eine wunderschöne, alte Tradition. Wir haben uns so kennengelernt, deine Großeltern haben sich so kennengelernt. Deine beiden Schwestern haben so ihre Ehemänner gefunden und bei dir wird das auch nicht anders sein. Morgen ziehst du in den Turm und damit Ende der Diskussion.“
Prinzessin Distel wurde ihrem Namen gerecht. Und das ist, um fair zu sein, nicht ihre Schuld. Hätten ihre Eltern ihr einen Namen gegeben wie Rose (die älteste Schwester) oder Margarite (die mittlere Schwester), dann wäre sie vielleicht umgänglicher gewesen. Aber so …
„Das seh ich überhaupt nicht ein!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf und verschränkte die Arme. „Erstens will ich gar keinen Prinzen haben und zweitens werde ich mich in diesem Turm zu Tode langweilen. Das könnt ihr doch nicht wirklich wollen?!“
Aber dieses eine Mal nutzte Distel ihr ausgesprochen ausgeprägter Dickkopf nichts.
Bereits am nächsten Morgen saß sie in der königlichen Kutsche, nun der Ersatzkutsche, bei der der Lack schon ein wenig ab war, und wurde weggekarrt.
Das war eigentlich auch schon ein Grund, sich aufzuregen, aber Distel wusste, dass das Budget des Königreiches nicht mehr ganz so üppig war wie einst. Und sie war es gewöhnt als dritte von drei Prinzessinnen das eher kurze Ende der Wurst zu bekommen. Hatte man ihre Schwestern in höfischem Umgang ausgebildet, ihnen Seidenstickerei und Tanzen beigebracht, so hatte es für Distel noch zum Lesen, Schreiben, Rechnen gereicht und ansonsten hatte sie viel freie Zeit gehabt, die sie mit Vorliebe beim Gesinde verbrachte.
Statt Seidenstickerei konnte diese merkwürdige Prinzessin Socken stopfen und statt die Quadrille zu tanzen, wusste sie, wie man leckeres Brot buk. Vielleicht war all das mit Schuld daran, dass diese Prinzessin eher wie ein ungeschliffener Diamant daherkam und sich auch nicht im Mindesten darum scherte. Feine Kleider waren ihr eine Plage und sie war froh, sich um höfische Veranstaltungen zu drücken.
Doch dann sah sie den Turm. Oder besser: den ‚Turm‘.
„Das ist doch wohl nicht wahr!“
„Gute Türme sind rar geworden“, sagte der Kutscher entschuldigend.
„Das ist nicht einmal ein schlechter Turm! Das ist eine Hütte!“
Der Mann zuckte die Schultern und machte sich daran das Gepäck abzuladen. Distel hatte vor lauter Angst, sich zu langweilen, die halbe Schlossbibliothek eingepackt.
‚In Ordnung‘, dachte Distel. ‚Ganz ruhig. Worüber beklage ich mich denn? Ich werde hinaus gehen können! Es gibt sogar einen Garten.‘
In aller Ruhe inspizierte sie das kleine steinerne Haus. Es brauchte ein paar kleinere Reparaturen, die sich Distel zutraute, und natürlich musste ordentlich geputzt werden. Aber es war Tradition, das der Prinzessin zu überlassen und stellte somit keinen besonderen Affront dar. Auch wenn Distel wusste, dass ihre älteren Schwestern sich mit jeweils einer Zofe und einer Magd hatten einschließen lassen und ziemlich sicher niemals selbst einen Besen in die Hand genommen hatten.
Nach einer Weile war das Gepäck abgeladen und ins Haus geschafft. Der Kutscher stand etwas verlegen an der Tür der Hütte, mit einem Schlüssel in der Hand.
„Eigentlich … also, Hoheit, ich …“
Distel seufzte. „Du sollst mich einschließen.“
Er nickte. „Ja, aber das erscheint mir falsch. Ihr braucht doch frische Luft und Bewegung, man schließt doch niemanden ein, der nichts verbrochen hat.“
Sie lächelte. Der Kutscher war ein freundlicher Mann, der selbst fünf Kinder hatte und Distel war sich sicher, dass er keines davon jemals auch nur ein bisschen gehauen hatte, denn alle fünf waren frech und sehr, sehr glücklich.
„Machen wir es doch so“, sagte sie und nahm ihm den Schlüssel ab. „Ich schließe selbst ab und wenn ich frische Luft brauche, geh ich kurz in den Garten. Wir verraten es keinem.“
Der Kutscher lächelte zufrieden, setzte seine Mütze auf und verabschiedete. Sie würden sich nächsten Monat wiedersehen, wenn er ihr frische Vorräte brachte. Tradition hin oder her, selbst Prinzessinnen mussten essen.
Distel brauchte zwei Wochen, das ganze Haus zu reinigen und nach ihrem Geschmack einzurichten. Zu ihrem Entzücken hatte sie eine voll eingerichtete Küche vorgefunden, die sogar einen Backofen hatte und sie bereitete sich täglich ihre Mahlzeiten zu und buk alle paar Tage Brot.
Abends saß sie am Feuer und las, bevor sie zufrieden ins Bett ging.
Sobald das Haus in Ordnung war, nahm sie sich den Garten vor. Er war zwar verwildert, aber viele der ursprünglichen Kräuter und Blumen waren noch darin. Summend jätete Distel ihre Namensvetterinnen aus den Beeten, grub um, goß und pflanzte Stöcke um. Eine Rose, die am Haus hochkletterte brauchte einen ordentlichen Schnitt, aber es gab nur eine rostige Schere und keinen Schleifstein.
„So geht das nicht, ich brauche anständiges Werkzeug“, sagte Distel zu einer Amsel, die auf dem Boden nach Regenwürmern pickte. „Niemand kann verlangen, dass ich hier sitze und mit rostigen Scheren herumfuhrwerke.“
Nachdenklich ging sie zum Gartentor und sah den Weg hinab. Dort war ein Dorf. Irgendwo hinter den Bäumen und Feldern. Natürlich sollte sie den ‚Turm‘ nicht verlassen. Aber wer würde es schon erfahren? Sie sah an sich herunter. Sie sah nicht einmal mehr wie eine Prinzessin aus. Die Röcke voller Gartenerde, die Haare mit einem Tuch hochgebunden, niemand würde wissen …
Da hielt Distel inne. Niemand würde es wissen.
Niemand würde jemals wissen, dass hier eine Prinzessin lebte.
Niemand würde es wissen.
Das hieß, keine Prinzen. Das hieß … das hieß … sie würde ihre Ruhe haben!
So lange sie das wollte.
Ein Jubelschrei kam aus ihrer Kehle und verscheuchte die Amsel.
Mit beschwingtem Schritt machte sich die Prinzessin, die gerade gemerkt hatte, dass sie eigentlich gar keine sein wollte, auf den Weg ins Dorf, um ein bisschen einzukaufen und vielleicht ein paar Freunde zu finden.
team Distel! ab sowas von
Schon, gell?
Vielleicht erlebt sie noch mehr kleine lowkey Abenteuer. Mal sehen. Irgendwie mag ich sie.
Wie süß! Definitiv mehr. Distel auf der Suche nach Freunden und vielleicht ein paar Haustiere und einige andere Abenteuer.
Ja, das könnte ich mir auch vorstellen. 🙂